Kernproblem: Warum Windlasten so oft unterschätzt werden
Die Windlast zählt zu den meist unterschätzten Risiken beim Einsatz von Arbeitsbühnen. Am Boden wirkt Windstärke 6 mit 12,5 m/s oder rund 45 km/h oft noch wenig bedrohlich. Du kannst Dich frei bewegen, und nur größere Äste beginnen sich sichtbar zu bewegen. Genau diese subjektive Wahrnehmung führt dazu, dass Wind in der Arbeitshöhe falsch eingeschätzt wird.
In 15, 30 oder mehr als 60 Metern Arbeitshöhe verändern sich die Bedingungen jedoch grundlegend. Mit zunehmender Höhe nimmt die Windgeschwindigkeit deutlich zu, und der Ausleger einer Bühne stellt eine große Windangriffsfläche dar. Dadurch verstärken sich die Kräfte erheblich, und scheinbar moderate Windstärken können die Standsicherheit kritisch beeinflussen.
In rund 20 Metern Höhe liegt die Windgeschwindigkeit erfahrungsgemäß etwa 50 Prozent höher als am Boden. Aus 12,5 m/s werden damit schnell 18,75 m/s. Zusätzlich entsteht an Gebäudeecken, zwischen Gebäuden oder vor offenen Fassaden die sogenannte Düsenwirkung. Dort konzentriert sich der Wind und kann lokal mit doppelter Stärke auftreten, verglichen mit freiem Gelände.
Normative Vorgaben und Regeln
DIN EN 280 als Grundlage
Die DIN EN 280 „Fahrbare Hubarbeitsbühnen“ definiert die wesentlichen Standsicherheitsanforderungen und legt die zulässigen Windlasten fest. Alle modernen Arbeitsbühnen werden nach diesen Vorgaben ausgelegt und geprüft. Sie bilden damit das entscheidende Regelwerk für den sicheren Einsatz im Außenbereich.
Die Norm geht von folgenden Berechnungswerten aus:
- Maximal zulässiger Staudruck: 100 N/m²
- entspricht 12,5 m/s Windgeschwindigkeit (Windstärke 6)
- entspricht etwa 45 km/h und klar erkennbaren Bewegungen dicker Äste
Wichtig für Deine Praxis: Viele ältere Bühnen wurden noch auf deutlich niedrigere Windstärken ausgelegt. Manche Modelle erlauben nur 8–10 m/s. Deshalb musst Du vor jedem Einsatz das Typenschild und die Betriebsanleitung prüfen.
Beaufort-Skala und praktische Richtwerte
| Windstärke | Beaufort | km/h | m/s | Wahrnehmung | Einsatz Arbeitsbühne |
|---|---|---|---|---|---|
| 4 | mäßige Brise | 20–28 | 5,5–7,9 | Zweige bewegen sich | ohne Einschränkungen möglich |
| 5 | frische Brise | 29–38 | 8,0–10,7 | größere Zweige bewegen sich deutlich | normaler Einsatz möglich |
| 6 | starker Wind | 39–49 | 10,8–13,8 | dicke Äste bewegen sich | nur gemäß Herstellerangaben |
| 7 | steifer Wind | 50–61 | 13,9–17,1 | ganze Bäume schwanken | Einsatz verboten |
| 8+ | stürmisch | 62+ | 17,2+ | Bäume werden stark bewegt | Einsatz verboten |
In der Praxis liegt die Grenze fast immer bei Windstärke 6. Oberhalb dieser Belastung ist der Einsatz von Bühnen ohne spezielle Zertifizierung nicht zulässig.
Physikalische Grundlagen der Windlasten
Staudruck-Formel
Der Staudruck q beschreibt die Kraft, die der Wind direkt auf eine Fläche ausübt. Die Formel lautet:
q = 0,5 × ρ × v²
mit:
- ρ = Luftdichte (ca. 1,25 kg/m³)
- v = Windgeschwindigkeit in m/s
- q = Staudruck in N/m²
Bei Windstärke 6 ergibt sich ein Staudruck von rund 100 N/m². Dieser Wert stellt die Grundlage für die Auslegung aller modernen Outdoor-Arbeitsbühnen dar.
Windkraft auf Flächen
Die tatsächliche Windkraft W auf eine Fläche A berechnest Du mit:
W = q × A × cp
Der Formbeiwert cp berücksichtigt die Geometrie der Fläche. Glatte Tafeln oder Bleche besitzen oft einen hohen Beiwert, wodurch die tatsächliche Windkraft deutlich über dem Basiswert liegen kann. Dieser Effekt wird in der Praxis häufig unterschätzt.
Windlast-Vorgaben für Personen, Material und Komponenten
Windlast auf Personen
Nach DIN EN 280 wird für eine Person eine Windangriffsfläche von 0,7 m² angenommen. Bei Windstärke 6 wirkt damit eine Kraft von etwa 70 N auf den Körper. In der Realität können größere Personen oder Kleidung mit erhöhter Fläche diesen Wert deutlich übersteigen.
Windlast von Material und Werkzeug
Die Norm erlaubt für mitgeführtes Material eine Windlast, die lediglich 3 Prozent der maximalen Zuladung entspricht. Dieser Wert ist extrem niedrig, und gerade großflächige Elemente überschreiten diese Grenze schnell.
Typisches Beispiel aus der Praxis:
Fall 1: Profilblechtafel 0,95 × 2 m
- Windfläche: 1,9 m²
- Theoretische Windlast laut Norm: 0,018 kN
- Tatsächliche Windlast bei Windstärke 6: 0,19 kN
Damit liegt der real auftretende Wert etwa beim Zehnfachen der Norm. Ein sicherer Transport ist nur bei sehr schwachem Wind möglich.
Fall 2: Gleiches Blech bei Windstärke 3
- Staudruck: 12,5 N/m²
- Windlast: rund 0,024 kN
Auch hier wird der zulässige Wert überschritten. Die Windlast großflächiger Materialien ist damit ein entscheidender Risikofaktor.
Standsicherheitsberechnung: Standmoment gegen Kippmoment
Eine Bühne ist nur standsicher, wenn das Standmoment größer ist als das Kippmoment:
MS > MK
Das Kippmoment entsteht durch Windkraft, Personenlast, Materiallast und ungünstige Hebelverhältnisse. Bei Auslegerbühnen kann sich die Last auf eine Stütze auf bis zu 80–90 Prozent des Gesamtgewichts erhöhen. Ohne ausreichende Unterlage besteht ein erhebliches Einsink- und Kipp-Risiko.
Häufige Fehler und kritische Situationen
Fehler 1: Keine Windmessung vor Ort
Viele verlassen sich auf Wetterberichte oder die eigene Einschätzung. Das ist gefährlich, denn Wetterstationen messen in zehn Metern Höhe und nicht an der Arbeitshöhe der Bühne. Die einzige verlässliche Methode ist ein Anemometer direkt im Einsatzbereich.
Fehler 2: Indoor-Bühnen im Außenbereich eingesetzt
Indoor-Bühnen sind nicht für Wind ausgelegt. Bereits geringe Luftströmungen können die Maschine destabilisieren. Das führt immer wieder zu schweren Unfällen.
Fehler 3: Transport großflächiger Materialien
Planen, Bleche oder Fassadenelemente erzeugen Windkräfte, die die zulässigen Werte schnell überschreiten. Die Folge ist ein erhöhtes Kippmoment.
Fehler 4: Düsenwirkung an Gebäuden unterschätzt
In Engstellen und an Ecken entstehen verstärkte Windströmungen. Die tatsächlichen Kräfte können dort bis zu doppelt so hoch sein wie im freien Gelände.
Fehler 5: Neigungsgrenzen missachtet
Bereits geringe Neigungen verstärken das Kippmoment zusätzlich. Kombiniert mit Wind steigt das Risiko erheblich.
Fehler 6: Überladung und falsche Gewichtsverteilung
Zu viele Personen oder falsch platziertes Material verschieben den Schwerpunkt ungünstig. Das erhöht das Risiko kritischer Schwingungen und Kippmomente.
Fehler 7: Fehlende PSAgA
Bei Windböen oder Schwingungen besteht die Gefahr, aus dem Korb geschleudert zu werden. Teleskopbühnen müssen grundsätzlich mit PSAgA genutzt werden, um diesen Katapulteffekt zu verhindern.
Unfallstatistiken: Die häufigsten Ursachen
IPAF Global Safety Report 2016–2018
Von 68 analysierten tödlichen Unfällen entfielen die meisten auf:
- Stürze aus der Höhe
- Stromschläge
- Einklemmungen
- Umkippen von Bühnen
Besonders gefährlich sind Arbeiten in angehobener Position. Zwei Drittel der Unfälle passieren, wenn der Ausleger vollständig ausgefahren ist.
Warum Windlasten so tückisch sind
Unsichtbarkeit und falsche Einschätzung
Wind ist schwer einzuschätzen, besonders in der Höhe. Körperlich spürst Du die Belastung oft erst, wenn die Bühne bereits reagiert.
Dynamische Kräfte durch Böen
Die Norm arbeitet mit Durchschnittswerten, während in der Realität Böen auftreten, die 20–50 Prozent über dem Mittelwert liegen. Diese Lastspitzen können Standsicherheit und Struktur zusätzlich belasten.
Kombinationseffekte
Wind wirkt selten allein. Neigung, Ausladung, Materiallast und Bewegungen der Bühne verstärken sich gegenseitig und erhöhen das Kippmoment.
Praktische Maßnahmen und Schutzvorkehrungen
Planung vor dem Einsatz
Prüfe den Standort sorgfältig. Engstellen, Gebäudeecken oder Höhenlagen beeinflussen die Windverhältnisse stark. Wähle die Bühne passend zur Umgebung und den erwarteten Belastungen.
Material mit großer Fläche sollte nur bei niedrigen Windstärken transportiert werden. Im Zweifel lässt Du es besser unten.
Überwachung während des Einsatzes
Miss den Wind regelmäßig mit einem Anemometer. Böen können kurzfristig auftreten und erfordern ein sofortiges Absenken der Plattform. Vermeide ruckartige Bewegungen und halte die Bühne so stabil wie möglich.
Notfallmaßnahmen
Steigt der Wind über den zulässigen Wert, musst Du den Einsatz sofort unterbrechen. Senke die Plattform ab und warte auf stabilere Bedingungen. Bei Störungen oder Schwingungen vermeidest Du hektische Steuerbewegungen.
Gründe für häufige Fehleinschätzungen
Routine und Gewöhnung
Viele Bediener haben zahlreiche Einsätze ohne Zwischenfälle erlebt und unterschätzen daher die Gefahr. Doch gerade Routine führt dazu, dass Warnsignale ignoriert werden.
Druck durch Termine
Auftraggeber drängen häufig auf schnelle Fertigstellung. Das führt dazu, dass Risiken in Kauf genommen werden, die bei ausreichender Zeit leicht vermeidbar wären.
Unzureichende Schulung
Viele verstehen die physikalischen Grundlagen nicht und verlassen sich daher zu sehr auf Bauchgefühl. Doch Windlasten folgen klaren Regeln, die man kennen muss.
Typenschild fehlt oder ist unlesbar
Fehlende Informationen zur zulässigen Windstärke führen zu falschen Entscheidungen. Du solltest immer sicherstellen, dass Maschine und Dokumentation vollständig und lesbar sind.
Praktische Rechenbeispiele
Beispiel 1: LKW-Arbeitsbühne mit Stützen
Ein 10-Tonnen-Fahrzeug erzeugt bei maximaler Auslage bis zu 90 Prozent Last auf einer einzelnen Stütze. Ohne ausreichend große Unterlegplatten sinkt diese Stütze ein, und die Bühne kann kippen. Mit geeigneten Platten lässt sich der Bodendruck jedoch sicher reduzieren.
Beispiel 2: Windlast in 25 Metern Höhe
Gemessene 12,5 m/s auf Bodenhöhe entsprechen oft rund 18 m/s in 25 Metern Höhe. Dadurch verdoppelt sich der Staudruck auf etwa 200 N/m². Auf eine Person wirkt dann eine Kraft von rund 140 N, was die Stabilität erheblich beeinträchtigt.
Fazit: Warum Windlasten ernst genommen werden müssen
Windlasten sind besonders gefährlich, weil sie unsichtbar, schwer einzuschätzen und dynamisch sind. In der Höhe verstärken sich die Kräfte erheblich, und Kombinationseffekte mit Ausladung, Materiallast oder Neigungen erhöhen das Risiko weiter.
Die wichtigsten Präventionsmaßnahmen lauten:
- Wind immer in Arbeitshöhe messen
- Typenschild und Betriebsanleitung beachten
- Windlast realistisch berechnen
- Material mit großer Fläche möglichst nicht transportieren
- PSAgA bei Teleskopbühnen konsequent anwenden
Die Unfallstatistiken zeigen klar: Umkippen ist zwar nicht die häufigste Unfallart, aber eine der gefährlichsten. Je besser Du die Windlasten verstehst und berücksichtigst, desto sicherer kannst Du mit Arbeitsbühnen arbeiten.





























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